Batschkapp (Sommergarten), Frankfurt, 20.07.2021
Ja, ich gebe es zu: Ich habe meine Hausaufgaben nicht gemacht seit dem letzten von mir besuchten Konzert von THE HIRSCH EFFEKT aus Hannover (Bericht dazu hier). Habe sie trotz phänomenalem Abend im Frankfurter Elfer Club nicht weiter verfolgt, sie nicht mehr gehört und nichts mehr über sie gelesen. Bei in der Regel mehr als 60 besuchten Konzerten pro Jahr (prä-Corona, selbstverständlich) umso unentschuldbarer, dass das Trio nicht mehr bei meinen miterlebten Gigs auftauchte – aber so ist es nun mal. Hätte die Batschkapp THE HIRSCH EFFEKT nicht für einen Corona-konformen Gig in ihrem Sommergarten gebucht, wäre diese Misere wohl noch eine Weile weitergegangen. Doch so passte unser erneutes Zusammentreffen nach 2014, aus diversen Gründen:
1. Endlich wieder mal Live-Musik. Nach zehnmonatiger Abstinenz vom Konzertgeschehen sollte man meinen, dass es fast schon egal ist, wer spielt, „Hauptsache (Live-)Musik“ (um einen verbogenen Vergleich mit den göttlichen MUTTER mal an dieser Stelle unterzubringen). Oder?
2. Nein, eben nicht. Vieles, was mich klangtechnisch anspricht, provoziert bei Live-Darbietungen Körperkontakt – mit Social Distancing ist Metal, Punk oder Hip Hop schwierig. Ohne solchen nur die halbe Miete. Konzerte mit Vertretern solcher Gattungen fanden in den letzten Monaten kaum statt – und wenn, dann eher online. Klampfende Barden aus der Nachbarschaft auf der Wiese sind auch toll, reizen mich aber weniger um vor die Tür zu gehen bzw. unter Menschen (was mir eh gerade schwerfällt). Das nur zur Erklärung, warum THE HIRSCH EFFEKT für mich einen Pflichttermin darstellten.
Dass auf dem Gelände der Batschkapp auf Abstand und Hygiene geachtet wird erlebte ich bereits 2020 bei THUNDERMOTHER, deren Klänge noch weit mehr als die der drei Niedersachsen auf den Bauch zielen. Musikstudenten könnten es dagegen genießen, Nils Wittrocks Grifftechnik am Gitarrenhals oder Ilja Lappin beim Bedienen seines fünfsaitigen Basses zu analysieren, so sie denn nicht nur Geschwindig-keitslinien imstande sind wahrzunehmen. Was man in so einem Ambiente mit Liegestuhl in den ersten Reihen locker machen kann, wenn man vor lauter Headbangerei überhaupt noch was mitbekommt. Das geht nämlich ebenso passabel im Sitzen sowie bei den dargebrachten Klängen, die trotz aller Vertracktheit rund und stimmig dazu einladen.
THE HIRSCH EFFEKT tauchen seltener in den Metal-Postillen auf als ihnen zusteht, haben mit der Prog-Bibel Eclipsed, dem Crossover-Blatt Visions sowie dem Punkzine Ox jedoch drei unterschiedlich aufgestellte Redaktionsteams am Haken, die ihnen regelmäßig verdient huldigen – laut Wikipedia wurde ihre Platte „Holon : Anamnesis“ im Jahr 2013 von Visions-Lesern als einziges deutschsprachiges Werk unter die „20 besten Alben aller Zeiten“ gewählt. Sehr fein. Trotzdem seltsam, dass meine Arbeitskollegin, die an diesem Nachmittag stolz ein Leibchen ihrer letzten musikalischen Prä-Pandemie-Ekstase RINGS OF SATURN spazieren führte, überhaupt keine Ahnung hatte von wem ich sprach, als ich damit angab mal wieder auf ein Konzert, zu THE HIRSCH EFFEKT, zu gehen. Unfair. Ebenso der Zuspruch: Die auf dem Parkplatz der Batschkapp großzügig verteilten Biertisch-Garnituren blieben zum größten Teil unbesetzt, nicht viele Menschen verirrten sich nach Seckbach. Die Liegestühle vorne wurden zwar alle benutzt, zum großen Teil jedoch von Einzelpersonen (von denen zwei mit VOIVOD- bzw. SLAYER-Shirts mir den Glauben an die Metal-Community zurückgaben). Allerdings war auch die ganze obligatorische Fotografenriege nicht am Start, die man sonst bei Shows zwischen Aschaffenburg und Gießen überall trifft.
Eine Angespanntheit bezüglich des recht kläglichen Zuspruchs konnte man bei dem Trio, das nach einem Intro („Nature Boy“ von David Bowie) pünktlich um 19.30 Uhr startete, jedoch nicht feststellen. Schlagzeuger Moritz Schmidt sowie Bassist Lappin betraten die Bühne unter Willkommensapplaus, den man beim Erscheinen von Nils Wittrock schon nicht mehr hören konnte, weil „Cotard“, der Rausschmeißer des 2015er Albums „Holon : Agnosie“, gleich in die Vollen ging. Der „Holon“-Trilogie wurde in den folgenden 90 Minuten sechs Mal gehuldigt – da ihr aktueller Dreher „Kollaps“ (2020) noch nicht flächendeckend beworben werden konnte, standen vier Stücke von diesem Werk auf dem Programm. Ein Werk, stark beeinflusst vom Wirken Greta Thunbergs und deswegen mit ausschließlich schwedischen Titeln (mit nach wie vor deutschen Texten, meistens) sowie vom gleichnamigen Buch des Anthropologen Jared Diamond und damit nicht nur ein Soundtrack zur Fridays for Future-Bewegung sowie ebenso zu der fast gleichzeitig zum Gig stattfindenden Flutkatastrophe in Deutschlands Westen, Belgien und Polen. Mit Songs gegen den ubiquitären Autowahn oder schwurbelnde Klimakrisen-Leugner mit fast verzweifelten Aufrufen zur Kurskorrektur, dargebracht in Phon-Attacken, die häufig an SYSTEM OF A DOWN und sogar mal an RAMMSTEIN erinnern; mit teilweise jedoch so zarter Vokalakrobatik, wie man sie eher mit Singer/Songwritern wie Jeff Buckley verbindet. Zumindest, wenn Wittrock das Mikrofon beherrscht – Kompagnon Lappin ist da meist eher Metalcore.
Diese Synthese aus Anliegen & Botschaft, aus (normalerweise) Pogo & Politik, aus Breaks & Brechern ist das, was THE HIRSCH EFFEKT so besonders sowie eigen macht. Vor der Kapp spielten sie exakt 90 Minuten vor Jüngern, die gern noch mehr bekommen hätten, jedoch „nur“ einen anspruchsvollen Achtminüter als einzige Zugabe bekamen – das klingt mau, aber pandemiebedingt schon irgendwie fair. Die Resonanz eines austickenden Publikums, dessen Schweißperlen sich mit denen der Akteure vermischen, fehlt komplett und ich mag mir gar nicht vorstellen, wie sich das anfühlt für eine Band, die so etwas seit Monaten nicht mehr haben darf. Doch auch Wittrock zollte den wenigen Anwesenden Respekt, als er sich wortreich dafür bedankte, dass wir Gäste „auch solche Konzerte besuchen“ und die Band damit unterstützen. „Ohne Euch könnten wir sowas nicht mehr machen“ führte er aus und meinte damit gleichermaßen den Merch-Verkauf wie den regelmäßigen Support auf dem Portal Patreon.
Ohne Musiker wie THE HIRSCH EFFEKT sowie andere, die gegenwärtig touren und dabei nicht auf den Infektionsschutz scheißen oder Schutzmaßnahmen verdammen (wie Nena, Eric Clapton, Van Morrison und weitere egozentrische Klappspaten) würden wir im Gegenzug von unserer Liebe zur Live-Musik gar nichts mehr haben. Auch wenn es komisch anmutet, noch im Hellen von einem Event nach Hause zu fahren. Im Batschkapp-Sommergarten, vor der Jahrhunderthalle, im Palmengarten, Milchsackgelände oder vor „Das Bett“ werden in Frankfurt diesen Sommer fast täglich Events dargeboten, die auf Zuspruch hoffen bevor im Herbst mutmaßlich wieder Schicht ist im Schacht. Anwesenheit ist Win-Win für alle Beteiligten.
Links: https://thehirscheffekt.de/, https://www.facebook.com/thehirscheffekt, https://thehirscheffekt.bandcamp.com/, https://www.reverbnation.com/thehirscheffekt, https://www.last.fm/de/music/The+Hirsch+Effekt
Text & Fotos (20): Micha
Foto (1): Ralf Wagner
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