Elfer Music Club, Frankfurt, 8.05.2014
Qual der Wahl am gestrigen Freitag: Besuche ich zur Abwechslung mal wieder ein von „Sky High“ veranstaltetes Festival(chen) im Frankfurter Club „Das Bett“, bei dem mit WEDGE immerhin ein auf diesen Seiten bereits gepriesener, von mir blöderweise jedoch schon etliche Male verpasster Act aufspielte? Oder halte ich den Abend bewusst kurz, um mich vor der um 23 Uhr stattfindenden Disco im Elfer Music Club zwischen Jungvolk zu bewegen, die allesamt meine Kinder sein könnten, um Tönen zu lauschen, die mir weniger bekannt vorkommen und meinen Horizont, eventuell, ein klein wenig erweitern? Letzteres schien mir bei THE HIRSCH EFFEKT, den Headlinern aus Hannover, durchaus möglich.
Ihr zweites Album „Holon: Anamnesis“ von 2012 hatte ich schon gehört und als „sehr interessant“ im Hinterkopf abgelegt – breaklastiger Mathcore mit erweitertem Instrumentarium, der an einigen Stellen an die von mir sehr verehrten THE DILLINGER ESCAPE PLAN erinnert. Es fährt im Allgemeinen aber einen absolut eigenständigen Sound auf, der, selbst wenn man (wie ich) einen Scheiß gibt auf das textliche Konzept hinter diesem Album sowie seinem Vorgänger „Holon: Hiberno“ (2010) und dem Nachfolger „Holon: Agnosie“ (2015), neue und ungenutzte Synapsen beim Hören freischaltet. Er verdient damit die Bezeichnung „progressiv“ weit eher als ein Großteil der Formationen, die mit diesem Etikett für sich werben.
Nach einem After-Work- Bierchen in der Sachsenhausener Schänke meines Vertrauens erreichte ich den Club genau zu dem Zeitpunkt, an dem die Kasse aufgeschlossen und das Stempelkissen geöffnet wurde, also wie üblich eigentlich zu früh. Trotzdem war schon Gewusel im Keller, viele junge Gesichter (Musiker und Kumpels) sowie einige in meinem Alter (Eltern und Verwandte der Musikanten) waren bereits anwesend. Die lokalen Supportbands kannte ich beide nicht, das Quartett TEMPEST MAN machte den Anfang.
Tempest Man
Sich selbst als die „ruhigste Band des Abends“ beschreibend, vermochten es die Wiesbadener schon formidabel, interessante Soundteppiche auszubreiten zwischen unaufgeregtem Indie-Rock, Postrock und Arrangements, die auch von Fusion-Jazz-Bands der 80er Jahre hätten stammen können. In dieser Kombination war das recht ansprechend und passte vielleicht nicht vom Tempo, jedoch von der stilistischen Offenheit her ziemlich gut zum später weitaus brachialer aufspielenden Hauptact. Sollte man im Auge behalten, die Herren.
Ebenso faszinierend: Die anschließend aufspielenden CIRQLES aus Frankfurt – zumindest live. Das Trio, bestehend aus zwei Keyboards/Synthies/ Whatsoevertechnikgedöns (bin fachfremd, merkt man vielleicht), Schlagzeug, gelegentlich gespielter und geloopter (glaube ich) Gitarre und zartem Gewisper (das
Cirqles
wegen seiner Schwachbrüstigkeit nicht die Bezeichnung „Gesang“ verdient, jedoch stimmig und passend war) beeindruckte mit treibenden, auch harsch auftretenden Beats hinter psychedelischen Gitarrenläufen und ging energietechnisch schon einen großen Schritt weiter in Richtung Headliner. Begeisterte mich so sehr, dass ich den Tonträger „Meander“ in Beschlag nehmen musste, der diese Intensivität aber nur teilweise in der Lage ist zu transportieren. Den Mördertrack, den ich am gestrigen Abend gefilmt habe, kann ich hier leider nicht präsentieren, weil er die Aufnahmetechnik meines Gerätes schlicht überforderte und im Resultat indiskutabel klang. Müsst Ihr live hören – beim Frankfurter Museumsuferfest Ende August wird zum Beispiel Gelegenheit dazu sein.
Doch jetzt endlich Butter bei die Fische, äh Hirsche. THE HIRSCH EFFEKT benannten sich nach einem Vorgang im Verdauungstrakt, den ich hier nicht wiedergeben will (schlagt‘s nach), schufen mit der Holon- (schlagt‘s nach) Trilogie ein konzeptionelles Mammutwerk mit Songtiteln wie „Vituperator“, „Emphysema“ oder „Ligaphob“ und damit viele Gelegenheiten zum, äh, „Nachschlagen“ eben.
The Hirsch Effekt
Das mutet nach abendfüllender Beschäftigung an, die durchaus sinnvoll und bewusstseinserweiternd sein mag – Beschäftigung jedoch, die sich nicht mit meinen Interessen deckt, weil ich nicht den Anspruch habe, den Künstler in seiner jeweiligen Botschaft hundertprozentig verstehen zu wollen. Das einmal vollendete Werk führt ein Eigenleben und spricht jeden Rezipienten auf andere Weise an – mich in erster Linie mit der Musik, die ich ziemlich großartig finde.
Bei den von juvenilen Buntköpfen gehörten, neuen HC- oder Emocorebands bin ich in der Regel draußen (ist auch gut so, ich bin schließlich alt) – in erster Linie, weil ich die nach „New Metal“ entstanden Kreisch-Bands musikalisch einfach nicht mag (Ausnahmen wie beispielsweise BRING ME THE HORIZON gibt es aber auch).
Bei THE HIRSCH EFFEKT hört man zwar etwas davon, aber auch jede Menge anderen Kram. Breaks. Tempiwechsel. Unerwartete Klangfarben. Elektronik. Und dabei ROCKT die Band wie Sau. Damit unterscheidet sie sich auch extrem von den Combos der sogenannten Hamburger Schule, mit denen THE, wohl wegen ihrer Texte, oft verglichen werden.
Im aktuellen „Visions“ wünscht sich Sänger Nils Wittrock im Interview mehr Aufmerksamkeit von Progressive-Metal-Hörern – ein mehr als naheliegender Wunsch, erfüllt die Gruppe doch alle Voraussetzungen dafür, von den Hörern dieser Musikrichtung wahrgenommen zu werden. Und zwar weitaus mehr als innovationsfeindliche Formationen wie DREAM THEATER oder andere Zelebraten des musikalischen Stillstands auf hohem Niveau. PAINKILLER oder eben THE DILLINGER ESCAPE PLAN sind eher geistesverwandte musikalische Referenzen. Und denen wurden sie live auch mehr als gerecht. Songs von allen drei Alben wurden ekstatisch zelebriert, das vorher sehr zurückhaltende Publikum ging ausnahmslos steil und das Trio bot eine kräftezehrende Performance, aus denen die Hingabe und der Spaß an der Sache nur so raustropfte. Kopfmusik? Vielleicht, aber nicht mehr live. Dass große Teile der Gäste fast jeden Song mitsingen konnten bewies, dass sie mein Desinteresse an den Texten nicht teilten und sie im Gegenteil sogar eine ziemliche Relevanz für das Zielpublikum boten. Schön. Ich war auf meine Art mehr als zufrieden mit der Wahl meiner Abendgestaltung und empfehle die Band hiermit ausdrücklich für ein Nachspiel im Schlachthof Wiesbaden am 5. Oktober. Ich wollte an diesem Tag eigentlich den ehemals innovativen Crossover-Pionieren WALTARI Tribut zollen, wenn sie in „Das Bett“ aufspielen – nach diesem Abend muss das jedoch wieder überdacht werden. Großartiges Konzert.
Links: https://de-de.facebook.com/tempestmanmusic, http://tempestman.bandcamp.com/, http://www.lastfm.de/music/Tempest+Man, https://de-de.facebook.com/cirqles, https://cirqles.bandcamp.com/, http://www.lastfm.de/music/Cirqles, https://de-de.facebook.com/thehirscheffekt, https://myspace.com/thehirscheffekt, http://www.reverbnation.com/thehirscheffekt, http://www.lastfm.de/music/The+Hirsch+Effekt
Text, Fotos & Clips: Micha
Alle Bilder: