Travelzine „DURST – Los Angeles Erinnerungen aus der Zukunft“

Frankfurt, 2. Oktober 2020 – Interview

Wir freuen uns, in diesem Blog auch immer mal wieder nagelneue Print-Publikationen vorstellen zu können – ganz besonders, wenn es um die von uns favorisierten Musikrichtungen geht, der Autor aus der Region kommt und das gesamte Produkt noch D.I.Y. ist. Das alles ist bei dem sogenannten „Travelzine“ mit dem Titel „DURST – Los Angeles Erinnerungen aus der Zukunft“ der Fall. Grob gesagt handelt der Band, der Mitte Oktober 2020 in opulenter A4-Größe erscheinen wird, von der Punk- und Hardcore-Szene in Südkalifornien, auch „SoCal“ (für Southern California) genannt. Darin hat Jan Röhlk – den Leser*innen der Musikpresse als Redakteur des Magazins Trust bekannt – Reiseberichte, Interviews und Fotos mit diversen illustren Persönlichkeiten des Punkrock im „Sunshine State“ an der US-amerikanischen Westküste zusammengetragen. Wir baten den Autoren zum Gespräch.

Hallo Jan! Kannst Du Dich bitte kurz vorstellen?

Ich stamme aus Leverkusen und lebe seit 14 Jahren in Frankfurt. Seit 2003 schreibe ich für das Punk/HC-Print-Fanzine Trust. Neben diversen anderen Arbeiten habe ich für das Trust zwischen 2004 und 2020 bislang 22 Interviews mit Bands, Labels, Fanzines, einem Schriftsteller, einem Maler und einer „Alt-Porn“-Darstellerin aus Los Angeles geführt, um den SoCal-Punkrock besser zu verstehen. Alle Interviews sind auch online auf der Website des Trust, bis auf das Joey Capemit Raymond Pettibon, das noch erscheinen wird. Ich liebe Punkrock aus Südkalifornien und die mächtige Stadt Los Angeles und bin einfach Fan der dort beheimateten Punkrock-Szene. Ich stehe aber auch auf andere Musik aus der Stadt: Beach Boys, NWA, Bodycount, Slayer, usw. Nicht alles, was das Etikett „kommt aus L.A.“ trägt, ist für mich deswegen geil, aber eben doch vieles.

links: Im Gespräch mit Joey Cape, Sänger von LAGWAGON, Frankfurt, 2012. Foto: Mara Luka

Welche Beziehung hast Du zu Südkalifornien? Wie oft bist Du dort gewesen?

Ich besuchte Südkalifornien zum ersten Mal 1990 mit meinen Eltern, als ich 12 Jahre alt war. Kurz darauf ging es bei mir mit (Punk-)Rock überhaupt erst los. Durch meine ältere Schwester begann ich direkt mit ihrer damaligen Lieblingsband und ihrem Lieblingslabel: Black Flag und SST Records. Ein guter Einstieg würde ich sagen. Einige Zeit später entdeckte ich für mich die Rich Kids on LSD aus Santa Barbara. Deshalb nehmen diese beiden Themenkomplexe – Black Flag und SST Records und die Rich Kids on LSD – in meinem neuen Travelzine auch einigen Raum ein. 2004 lebte ich zwei Monate in Orange County und Los Angeles, reiste einen weiteren Monat durch Kalifornien und besuchte L.A. 2008 und 2019 erneut.

BLACK FLAG – ein recht brachialer Einstieg in den Punkrock-Kosmos für einen 12-Jährigen… Welche Interpreten hast Du bis dahin gehört?

Bis 1990 stand ich auf Bros, Limahl, Duran Duran und las die „Bravo“ und „Pop Rocky“. Meine Schwester spielte mir dann zum allerersten Mal „Rockmusik“ vor – Jason Searsund gleich in der „Punk-Rock-Form“: „Fix me“ von Black Flag. Der Song geht nur knapp eine Minute, ich verstand am Anfang überhaupt nichts. Das sollte also dieser „Punk-Rock“ sein? Ich weiß noch ganz genau, was ich damals dachte: „Das ist ja absolut beschissen, hoffentlich spielt die mir kein zweites Lied von dem Müll vor!“.

rechts: Im Gespräch mit Jason Sears (l, gest. 2006), Sänger von RICH KIDS ON LSD, Santa Barbara, 2004. Foto: Lars Wogakt

Aber der Sound hatte Dich trotzdem angefixt…

Es dauerte ein wenig, denn er ist eben völlig anders als der von Roxette, nicht wahr? Und nach einiger Zeit kam die Erkenntnis, dass die Musik von Jason Donovan, New Kids on the Block und die Zeitschrift Bravo möglicherweise nicht mehr so interessant sind wie die von Black Flag und diese komische Hefte, in denen Geschichten über solche Bands drin standen wie zum Beispiel im Flipside, einem Fanzine aus Los Angeles, das es schon seit 1977 gibt. Wo gibt es das zu kaufen? Wo kauft man Black Flag-Platten? Ich musste alles wissen. So fing es an.

Blick von der Adresse des Elternhauses von Greg Ginn und Raymond Ginn in der 21st Street in Hermosa Beach, 2019

oben: Blick von der Adresse des Elternhauses von Greg Ginn und Raymond Ginn in der 21st Street in Hermosa Beach, 2019. Foto: Jan Röhlk

Als Anfang der 90er Jahre der südkalifornische Melodic-Core-Hype um NOFX, Offspring und Lagwagon im Rheinland, meiner ursprünglichen Heimat, auch ankam, war das die Musik, die ich mit meinen Kumpels entdeckte. SST war zu der Zeit schon „durch“, denn das hörten nur die Älteren. Dass die Basis für den Stil der genannten Melodic-Core-Formationen allerdings in erster Linie von einer Band – eben RKL – schon in den 80er geprägt wurde, verstand ich erst etwas später.

Nochmal zurück zu BLACK FLAG… Das Cover des Zines kam mir gleich irgendwie bekannt vor. Wie ist das Artwork entstanden?

Du hast Recht – das Cover ist angelehnt an das Motiv der Black Flag-Platte „My War“ von 1984, das Raymond „Pettibon“ Ginn, der Bruder des SST Records-Gründers und Black Flag-Gitarristen Greg Ginn, machte. Der war ja von Ende LP "My War" von Black Flagder Siebziger bis Mitte der Achtziger der SST-Hausgrafiker. Ich verehre den kompletten Output von Black Flag, er ist ja so unglaublich stilistisch vielfältig. Und diese LP, die ihren Eintritt in die „Heavy Rock“-Richtung darstellte und sich etwas vom früheren Hardcore-Punk entfernte, fand ich immer besonders krass. Ich fand den Vorschlag meiner Artworkerin und Layouterin Caren, der Figur statt eines Messers einen Füllfederhalter in die Hand zu geben, supercool. Zusätzlich hatte ich die Idee, ihr außerdem gegen die südkalifornische Sonne eine Sonnenbrille zu verpassen. Ich trage gar keine Sonnenbrillen, aber die Assoziation mit Sonnenbrille war so ungefähr das dümmste Klischee, was man mit Los Angeles und Kalifornien verbindet, das passt doch! (lacht) Die vier klassischen Balken des Black Flag-Logos haben wir gegen vier Bierflaschen ersetzt. Budweiser habe ich in den Staaten immer gerne getrunken. Hey, wenn GNR, Gang Green und Fear das auch trinken, dann muss es doch was Gutes sein, oder?! Und der Schriftzug „My War“ lautet jetzt „My L.A.“. „Find a way“ ist mein Lieblingssong von RKL, deshalb wollte ich den auch mit dabei haben.

Bitte erkläre uns kurz, was es mit dem Titel „DURST – Los Angeles Erinnerungen aus der Zukunft“ auf sich hat.

DURST ist natürlich eine liebevolle Hommage an das TRUST-Logo, das seit 1986 unverändert auf dem Cover ist. Ursprünglich stammte die Inspiration dafür übrigens vom klassischen, kursiven NYPD-Schriftzug auf den dortigen Polizeikarren. DURST, ja, Trinker-Humor (lacht), aber es ist mehr in Richtung „tatendurstig“ gemeint, zum Beispiel nach L.A. zu reisen. „Erinnerungen aus der Zukunft“ ist eine Anspielung auf das Buch „City of Quartz: Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles“ des südkalifornischen Stadtsoziologen Mike Davis von 1990. Es ist das beste Buch über L.A., das ich kenne. Davis beschreibt darin die Little Joe im Sonic Ballroom, Köln, 2017 Geschichte der Stadt, die Gentrifizierung, streift die Geschichte der Gangs und sagt im Prinzip eine Sache: In L.A. entsteht die Zukunft für die restliche Welt. Die Frage sei nur, ob es eine gute oder schlechte Zukunft wäre.

links: Mit Little Joe (Joe Raposo, vorn), Bassist von RKL und LAGWAGON, Köln, 2017. Foto: Mara Luka

Er meint, dass es für die restliche Welt schlimm werden wird, denn in L.A. entsteht keine Utopie – das hätten sie gerne und transportieren permanent diese Sonne-Strand-Palmen-Bikinis-Bilder – sondern dort herrscht die komplette Dystopie. Die Stadt und der Großraum sind ja wirklich ein kompletter Albtraum aus Beton und Autos, mit einigen schönen Seiten wie zum Beispiel der Musik-Kultur. Das fand ich passend und mit „Erinnerungen aus der Zukunft“ für mein Heft stimmig: Es geht um Erinnerungen an L.A., aber ich stelle auch künftige Ziele für hoffentlich bald folgende L.A.-Trips vor. Insofern ist es auch etwas in die Zukunft gerichtet und keine Glorifizierung meiner ach so tollen Erlebnisse und Bilder mit meinen Stars dort. Na gut, ein bisschen ja schon, aber nicht nur (lacht).

Was erwartet die Leser*innen in Deiner Publikation?

Es ist keine objektive Geschichte des L.A./SoCal-Punkrocks von einem akademischen Experten oder Zeitzeugen. Es ist der subjektive Blick eines Fans auf mich interessierende Menschen, die ich mal treffen wollte, weil sie für meine musikalisch-persönliche Entwicklung so prägend waren. Für das Zine habe ich eine Auswahl der schönsten Interviews zusammengestellt, einige gute oder lustige Zitate vorangestellt und das Ganze mit vielen Fotos und anderem Material von meinen dazu passenden Punk-Trips vor Ort illustriert. Außerdem finden die Leser ein Essay über L.A., vier Trust-Kolumnen aus Huntington Beach und Hollywood, eine Liste meiner Ziele für noch kommende Los Angeles-Reisen sowie einige Playlisten der L.A.-Trips 2004, 2008 und 2019.

Gehen wir mal ins Detail. Wer hat für Dich Rede und Antwort gestanden?

Anfangs war der grobe Plan, alles schön zu gliedern, in drei Teile: Im ersten Teil mit dem Titel „Hey Suburbia“ wären dann die Bands aus dem nördlichen Grossraum der Stadt – Lagwagon und das Heartattack Fanzine aus der Stadt Goleta, Rich Kids on LSD und Annihilation Time aus Santa Barbara und Ill Repute aus Oxnard – dran gewesen. Im zweiten Teil namens „Total Access in Los Angeles“ sollten dann unter anderem Kira Roessler aus dem San Fernando Valley, Joe Carducci von SST Records aus Lawndale, die Descendents aus Torrance, Hudley vom Flipside Fanzine in Whittier, Todd und Jimmy vom Razorcake Fanzine aus Highland Park bzw. East L.A., Dan Fante aus Hollywood und Jesse Michaels, ebenfalls aus dem San Fernando Valley, zu Wort kommen. Und im dritten Teil der südliche Großraum mit The Crowd Revelation Records aus Huntington Beach und Dr. Strange Records aus Alta Loma. Am Ende hab ich es aber ziemlich collagenartig gemacht. Das Faszinierende an L.A. ist ja, das alles nahtlos ineinander übergeht.

Christian mit RKL-Tätowierung, 2015links: Christian, Betreiber einer RICH KIDS ON LSD-Tribute-Website, zeigt sein Tattoo mit dem Schriftzug „RKL like Jimi Hendrix covering SLAYER“, 2015. Foto: Christian Oner

Das gefräßige Betonmonster kennt keine Grenzen und dehnt sich ständig aus, so dass 30 Millionen Menschen in einem riesigen Großraum dort im Chaos leben. Das Heft ist somit teilweise „assoziativ“-chaotisch, widersprüchlich, ambivalent, lustig, traurig, manchmal intelligent, manchmal unglaublich flach und das alles in einem wunderschönen, ruhigen Layout – dafür möchte ich Caren an dieser Stelle nochmal Dank sagen! Also ein bisschen wie L.A. selber, die Stadt ist wirklich sehr ambivalent: Ein Albtraum aus Beton inmitten der schönsten Landschaft, die man sich so vorstellen kann: Strände, Pazifik, Palmen, Berge plus die tolle Mucke von dort!

Welche Interviews sind Dir noch besonders in Erinnerung und welche Persönlichkeiten haben einen bleibenden Eindruck bei Dir hinterlassen?

Das ist eine schwere Frage, denn ich verehre sie ja alle! Es sind aber tatsächlich vier Interviews und Begegnungen, an die ich mich besonders gerne erinnere, weil ich einfach selber so unglaublich daraus gelernt habe. Dafür macht man ja eben auch Interviews, weil man mehr wissen möchte. 

Erstens der tolle Gastbeitrag von Fat Mike von NOFX für mein RKL Memorial Special, er hat es damals einfach total gut auf den Punkt gebracht bezüglich RKL. Zweitens eine Aussage von Joe Carducci von SST, der dort von 1981 bis 1986 arbeitete, Zitat: „Dieser Stil und die Politik von Bands aus dem Süden von Los Angeles wie Black Flag, Minutemen, Descendents, Saccharine Trust, Saint Vitus, Overkill, 

Jesse Michaels, 2019rechts: Jesse Michaels, ehemals Sänger von OPERATION IVY und aktuell bei CLASSICS OF LOVE, Selfie zum Interview aus seiner Wohnung in L.A., 2019. Foto: Jesse Michaels

Red Cross, Secret Hate, etc., das war völlig frei von Angst. Es war ein Mix aus Arbeiterklasse und Boheme auf dem Fundament der Surfkultur. Diesen Mix gab es nirgendwo anders auf der Welt, zumindest hatte ich keinen gesehen“. Ich wollte SST immer besser verstehen, woher kam diese geile Shit eigentlich? Und das, was Joe da herausstellt, diese drei Einflüsse, das fand ich genial erklärt, dieser Mix ist wirklich selten. 

Drittens das Interview mit den Descendents, einer alten SST-Band, in London 2010. Es ging eigentlich nur um eine harmlose Frage zu der Bedeutung eines Songtextes und daraus wurde ein wirklich schönes Gespräch. Bill Stevenson und Karl Alvarez beantworteten diesen Part und ich fand es beeindruckend, dass sie so selbstkritisch waren.

Viertens das Treffen mit Hudley vom Flipside Fanzine in Los Angeles-Silverlake 2019. Hudley ist nun Anfang 60, ich bin Jahrgang 1978. Die könnte meine Mutter sein und sie ist einfach eine echte L.A.-Punk-Figur! 1993 war meine Bibel das „HC California“-Buch über den Punk in L.A. von Ende der 70er bis Anfang der 80er. Dort war ein Bild des Flipside Zines drin, bei dem sie von Ende der 70er bis 1989 mitmachte. 1993 war ich 15 und ich weiß noch, wie ich damals dachte, dass die Leute hinter diesen Heften sicher alle längst tot sind – aber das Flipside gab es 1993 ja noch. Dass ich dann 2019, also 26 Jahre später, die Herausgeberin mal live kennenlernen konnte und mit ihr einen wunderschönen Abend in einer Kneipe in L.A. verbrachte, war einfach riesig. Sie brachte ihren Flipside Fanzine #37, 1983heutigen Mann mit, bis 1989 war sie mit Al Flipside verheiratet. Auch ein total netter Typ, offen, interessiert.

Flipside Fanzine #37, 1983.

Einfach beides richtig gute Leute, mit denen man prima Bier trinken und sich allen möglichen Scheiss erzählen konnte. Mich beeindruckte, wie freundlich die waren, null Arroganz, null „So, Kleiner. Ich erkläre dir Mal L.A.-Punk, Du Nix-Checker“. Ist ja selten, dass solche „gefühlten Legenden“ einfach „down to earth“ sind und nicht den Dicken machen von wegen „Als ich Black Flag 1978 live sah, warst du da schon geboren?“. Man kennt das ja manchmal von den „Alt-Punks“. Zu allen diesen Begegnungen und Gesprächen jetzt ins Detail zu gehen, würde den Rahmen dieses Interviews sprengen, aber das steht ja auch alles in dem Travelzine.

Welchen Umfang hat das Fanzine und wie können Interessierte an ein Exemplar kommen?

Das Los Angeles-Punkrock-Travelzine DURST hat 64 farbige Seiten im A4-Format, kostet zehn Euro und wird Mitte Oktober 2020 erscheinen. Wer sich eine Copy sichern möchte, melde sich bitte per Mail bei mir unter jan(at)trust-zine.de. Außerdem wird es das Heft bei Kink Records zu kaufen geben.

Jan, vielen Dank für das Gespräch!

Gerne! Und danke an die Rockstage-Crew, dass ich mein Werk hier vorstellen kann. Keep laughing, Homies!

***

Interview: Stefan
Fotos: entnommen aus dem Travelzine „DURST“
Los Angeles Metro System Map: Wikimedia Commons/Kriston Lewis

1 Comment

Filed under 2020, Interviews

One Response to Travelzine „DURST – Los Angeles Erinnerungen aus der Zukunft“

  1. Nicole

    Sehr interessant, auch ich liebe diese Stadt, ich war 1986 für ein Jahr dort… vorher Landleben in D und Punk und independent auf BFBS etc gehörten zum Alltag.. schön geschrieben..macht Lust auf road trip in California, danke.